S. Koch: Identitätskrisen nach dem Ende des Britischen Empire

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Titel
Identitätskrisen nach dem Ende des Britischen Empire. Zur kulturellen Neu-Verortung in Kanada, Australien und Aotearoa Neuseeland


Autor(en)
Koch, Sebastian
Reihe
Bedrohte Ordnungen
Erschienen
Tübingen 2023: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIII, 509 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Finzsch, Sigmund Freud Privatuniversität, Berlin

Sebastian Kochs gründlich überarbeitete Tübinger Dissertation ist eine großangelegte transnationale und transfergeschichtlich argumentierende Studie, die ganz große Räder dreht. Das weltumspannende Britische Empire gab seinen weißen Bewohnern einen nostalgischen Sinn von Orientierung, „Belonging“, Identität, auch wenn sie als Bewohner:innen von Adelaide, Auckland oder Abbotsford nie einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatten. Mit dem Untergang des Empire setzte eine Identitätskrise der weißen Siedlerkolonist:innen ein, die in Form einer Neuorientierung überwunden werden musste. Die Studie basiert auf der extensiven Auswertung von Archivalien in Australien (Canberra), England (London), Kanada (Montreal, Ottawa, Hamilton, Regina, Saskatoon und Toronto) und Aotearoa Neuseeland (Wellington, Auckland).

Allein diese Liste vermittelt schon einen Eindruck von der Breite des aufgespannten Materials und der Dimension der historischen Fragestellung. Darüber hinaus wertete der Verfasser Clipping-Sammlungen, Leitartikel der maßgeblichen Zeitungen und Transkripte von Interviews und Talkshows aus. Die Arbeit untersucht postkoloniale Erfahrungen in den ehemaligen weißen Siedlerkolonien. Dies ist geraten, weil die formelle Unabhängigkeit Kanadas, Australiens oder Neuseelands nach 1945 nicht mit einer effektiven oder kulturellen Unabhängigkeit gleichgesetzt werden kann. Die Untersuchung Kochs ist in vier Großkapitel gegliedert. Eine konzise Einleitung (37 Seiten) steht vor einem Kapitel zur Kontextualisierung und zum theoretischen Zugriff, das recht umfangreich und grundsätzlich gehalten ist (86 Seiten).

Das dritte Kapitel erörtert die Auswirkungen des „Cultural Cringe“, jenes Zeitraums, der zwischen dem identitären Vakuum und der neuen Identitätsfindung lag. „Cultural Cringe“ war zunächst nur ein Schlagwort, das sich auf die Minoritätskomplexe der weißen australischen Bürger:innen bezog, aber wohl auch auf Kanada und Neuseeland zu passen scheint. Jeanne MacKenzie sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem „colonial incubus“, eine interessante sexualisierte Metapher der Unterordnung und Besessenheit.1 In anderen Texten ist von „falschem Bewusstsein“ der Kolonist:innen die Rede. Schon in den 1950er-Jahren also findet sich eine Diskussion, die auf das Phänomen des „Identitätsverlusts“ vorbereitete, wobei die Verlaufsformen dieses Verlusts sich unterschieden. In Kanada trat er früher auf, nicht zuletzt wegen der geographischen und kulturellen Nähe zu den USA.

Das vierte Kapitel fokussiert auf die Vorstellungen des New Nationalism, der in gewisser Hinsicht die Reaktion auf die Konstruktion eines „Cultural Cringe“ und den Verlust der Britishness darstellte. Dieses Kapitel stellt den Hauptteil des Buches dar, sowohl inhaltlich als vom Umfang her. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse schließt dieses außerordentliche Buch ab. Koch zeigt, dass es unterschiedliche Blickwinkel auf die Identitätskrise gab. Hier kam sowohl Australien als auch Neuseeland die Existenz als Inselstaat zugute, die es nicht notwendig machten, sich vom „Großen Bruder“ USA zu differenzieren, wie dies in Kanada der Fall war. „Britain’s Turn to Europe“, die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Union, versetzte die Kanadier:innen in einen größeren Schock, als dies in Australien oder Neuseeland der Fall war. In diesen Staaten war es deshalb auch einfacher, den eigenen emergenten Nationalismus positiv von der Britishness als „thwarted nationalism“ abzuheben. Australien und Neuseeland vermochten es, sich dem pazifischen Raum zuzuwenden. Dennoch blieben alte Paradigmen der kulturellen Identifikation lange wirksam und die alte, britisch geprägte Kultur ließ sich nicht einfach durch eine neue, eigene solche ablösen. Es kam zu einer Hybridisierung, die Elemente des Multikulturalismus enthielt. Multikulturalismus bot sich als Ausweg aus der alten Identitätskonzeption an, wobei Indigenität als identitäre Ressource diente – ohne, dass den Indigenen deshalb kampflos größere Rechte zugestanden wurden. „Unity in Diversity“ konnte nur erreicht werden, wenn die bi-nationalen Gesellschaften Kanada und Neuseeland den jeweiligen strukturellen Minderheiten größere Mitspracherechte einräumten. Augenfällige Demonstrationen der australischen Diversity wie der inzwischen von indigenen Australier:innen hart kritisierte Australia Day erwiesen sich letztlich als Propaganda, die indigene Kulturen nur als Fassade benutzten. Es gelang Vertreter:innen indigener Gruppen allerdings, die Behauptung der Diversity zu nutzen, um auf die inhärenten Widersprüche der Kulturpolitik aller drei Nationen hinzuweisen. Wegen des frühen Auftretens des „Cringe“ konnte Kanada gegenüber Australien und Neuseeland eine Vorbildfunktion aufnehmen, die allerdings im Falle Australien dadurch verkompliziert wurde, dass sich Australien nicht als bi-nationale Gesellschaft konstruieren konnte. Schon aus den interkulturellen Vergleichen entstand eine Vernetzung Australiens und Neuseelands mit Kanada, eine Art neuer Commonwealth. Ein fünfzig Seiten umfassender wissenschaftlicher Apparat und ein Personen- und Sachregister runden die Arbeit ab und erleichtern die Lektüre gewaltig.

Die hier versuchte Zusammenfassung wird der Komplexität der Untersuchung und Darstellung dieser Untersuchung nicht gerecht. Der Verfasser argumentiert vielschichtig, die unterschiedlichen Quellengattungen sorgfältig gegeneinander abwägend und immer differenziert. Er demonstriert eine stupende Kenntnis der Nationalgeschichten dreier Nationen nach 1945, die er mit großer Vertrautheit der Forschung und der Theorie kombiniert. Insofern muss diese Dissertation als großer Wurf gelten. Gestört haben mich lediglich die für den Zusammenhang und den Fluss der Argumentation überflüssigen Referenzen an den Tübinger Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ (SFB 923) und die Angewohnheit, wichtige Informationen in viel zu langen, zum Teil eineinhalb Seiten umfassenden Fußnoten (Fn 128, S. 70f., Fn 297, S. 105f., Fn 396, S. 358f.) zu vergraben. Hier wären kurze Literaturangaben und die Übernahme wichtiger Argumente in den Fließtext die bessere Lösung gewesen. Mit 89 Euro dürfte dieses wunderbare Buch zu teuer sein, um die ihm gebührende Beachtung zu finden. Dafür kann aber Sebastian Koch nichts und der Verlag alles.

Anmerkung:
1 Jeanne MacKenzie, Australian Paradox, London 1962.

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